Die dritte Lesung der czEXILe-Lesereihe war ein besonderes Event. Der 14.4.18 war kein gewöhnlicher Tag in Berlin, Deutschland und weltweit. Der March for Science (de.: Der Marsch für die Wissenschaft) fand an diesem Tag statt. Überall auf der Welt fanden Demonstartionen von Wissenschaftler*innen statt, die auf die Bedeutung ihrer Arbeit aufmerksam machen möchten. In Berlin und Potsdam haben sich die Organisator*innen des March for Science für ein anderes Format des Protests entschieden. Gegen Populismus und für die Wertschätzung der Wissenschaft wurde dieses Jahr in Berlin nicht marschiert. Die Wissenschaftler*innen haben sich mit ihren Kiezen getroffen und erzählt, was sie so jeden Tag in der Arbeit machen und warum es jede*n betrifft. Die Kieznerds – so der Name der Aktion – haben sich an diesem einen Tag zwischen 10 und 21 Uhr an 25 verschiedenen Orten mit Interessent*innen getroffen. Insgesamt 22 Forscherinnen und 15 Forscher haben daran teilgenommen. Einer von den 37 Aktivist*innen war auch ich.
Im Kulturcafé Fincan im Neuköllner Kiez Rixdorf habe ich mein Thema vorgestellt. Die Veranstaltung hat (wie auch sonst) nicht pünktlich angefangen, doch das akademische Viertel** abzuwarten, hat sich gelohnt. Mit der Lesung konnten alle, so wirklich alle Stühle, Sessel, Sofas, Barhocker, Sitzkissen und teilweise auch der Boden komplett besetzt werden. Insgesamt waren etwa 60 bis 70 Menschen da. Einige Gesichter kannte ich schon von vergangenen Lesungen, doch auch etwa die Hälfte der Gäste war für mich absolut neu.
Dieses Mal waren das Thema die Frauenlebensläufe der Rixdorfer Religionsflüchtlinge aus dem 18. Jahrhundert. Nach einer Einführung von mir und dem Archivar der Rixdorfer Brüdergemeine Stefan Butt, wurde eins der Lebensläufe von der tschechischen Schriftstellerin Dora Kaprálová im Original vorgelesen.
Bei dem Hauptteil der Sitzung wurden schließlich die deutschen Übersetzungen der Lebensläufe von Dorota Jelinkowa (*1748 Woshy, Schlesien; ✝1766 Berlin), Dorota Kopačkowa (*1699 Oldřiš, Böhmen; ✝1770 Berlin), Maria Machačkowa (*1745 Berlin; ✝1763 Rixdorf/Berlin) & Louisa Friederika Pulkrabkova (*1814 Rixdorf; ✝1819 Rixdorf) präsentiert. Mit der Auswahl der Biografien und ihrer Übersetzung beschäftigte sich das Fachgebiet der Westslawischen Sprachen des Instituts für Slawistik der HU. Gelesen wurden die Zeitzeugnisse von der Schauspielerin Tatjana Hoffmann. Kommentiert wurden sie von der HU-Forscherin Dr. Sabine Kalff (Literaturwissenschaft & Geschlechterstudien).

Das Programm des Abends wurde vom Publikum sehr gut aufgenommen. Gleich nach dem Hauptteil der Lesung wurden lebhaft Fragen an alle Render*innen der Lesung gestellt und auch die vorgestellten Inhalte aus der Hörer*innen-Sicht kommentiert. Doch selbst anderthalb Stunden nach dem offiziellen Ende der Lesung gingen einige Diskussionen zwischen den Gästen und den Redner*innen in persönlichen Gesprächen eifrig weiter.
** das akademische Viertel – 15 Minuten nach der vollen Stunde, die vor dem Beginn einer Lehrveranstaltung an den meisten deutschen Hochschulen eingehalten werden.
Alle Fotos © Aleksej Tikhonov. Das Foto mit Aleksej Tikhonov © Maria Gerasimova für Wir von Hier (https://stories.wirvonhier.de/2018/04/18/wissenschaft-im-kiez-unterwegs-mit-kieznerds/)